Die Kryptoindustrie erlebt eine Übernahmewelle: Die Giganten kaufen am Tiefpunkt ein, das Web3-Ökosystem wird neu strukturiert.

Während kleine Projekte noch mit der nächsten Finanzierungsrunde und dem Token-Listing kämpfen, tauschen die Branchengrößen bereits Bargeld gegen Zeit und sichern sich durch Übernahmen ihre Zukunft.

Autor: Gu Yu, ChainCatcher

 

Im Jahr 2025 erlebt die Krypto-Welt eine beispiellose Übernahmewelle.

Von DeFi-Protokollen über Vermögensverwaltungsfirmen bis hin zu Zahlungsdienstleistern und Infrastrukturprovidern – nahezu täglich gibt es neue Übernahmefälle. Kraken schluckte die Futures-Handelsplattform NinjaTrader für 1.5 Milliarden US-Dollar, Coinbase hat kürzlich nacheinander die Derivatebörse Deribit und die On-Chain-Finanzierungsplattform Echo übernommen. Laut RootData gab es im Jahr 2025 bislang 143 Krypto-Übernahmen – ein neuer Rekord und ein Anstieg von 93% gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Warum sind die Branchengrößen gerade in einem schwachen Markt so erpicht auf Übernahmen? Und welche Auswirkungen hat diese Übernahmewelle auf den Markt?

 

1. Die Branchengrößen tauschen Kapital gegen Zeit

 

Übernahmen sind das direkteste Mittel für die Großen, ihr Spielfeld zu erweitern und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

In den vergangenen Jahren konnten die Branchengrößen, allen voran zentralisierte Börsen, meist gut von Handelsgebühren leben. Doch mit dem Bärenmarkt im Sekundärhandel und verschärfter Regulierung reicht das einfache Handelsgeschäft nicht mehr für Wachstum – und externe Web2-Giganten lauern bereits. Daher setzen sie auf Übernahmen, um ihr Spielfeld zu erweitern: Entweder um Lücken im Ökosystem zu schließen oder um regulatorische Ressourcen zu gewinnen.

Durch Übernahmen können die Großen die langwierige Eigenentwicklung und Markterschließung überspringen und Wettbewerber oder komplementäre Teams schnell eingliedern. So lässt sich das Produktportfolio in kurzer Zeit ausbauen – etwa von Spot- zu Derivatehandel, von Handel zu Zahlungs- und Verwahrdienstleistungen – und die Full-Stack-Servicefähigkeit steigern.

Wichtiger noch: Durch den Kauf von Unternehmen mit bereits vorhandener Regulierungserlaubnis oder ausgereifter Compliance-Struktur können Plattformen schneller eine „Eintrittskarte“ für bestimmte Märkte erhalten (z.B. Lizenzen, Compliance-Prozesse oder Clearing-Kanäle in bestimmten Jurisdiktionen). Das spart gegenüber dem Aufbau eines eigenen Compliance-Teams viel Zeit – besonders wichtig in der Krypto-Welt, in der Regulierung immer strenger und regionale Unterschiede groß sind.

Ein Beispiel ist Coinbase. Seit 2025 verfolgt das Unternehmen eine nahezu „vollständige Kettenstrategie“: Von Derivatebörsen über On-Chain-Finanzierungsplattformen bis hin zu regulierten Verwahrunternehmen – abgedeckt werden Handel, Emission, Zahlungsverkehr und Asset Management. Ein Brancheninsider mit Nähe zu Coinbase verriet: „Sie wollen das ‚Goldman Sachs-Imperium‘ im Kryptobereich aufbauen – nicht abhängig vom Coin-Preis, sondern vom Service-Ökosystem.“

Auch Kraken verfolgt eine ähnliche Logik. NinjaTrader ist ein etablierter Player aus dem traditionellen Finanzsektor. Durch die Übernahme erhält Kraken einen von US-Regulierungsbehörden anerkannten Compliance-Kanal und kann traditionelle Futures-Kunden und -Tools in sein Ökosystem integrieren. Künftig muss Kraken keine Umwege mehr gehen, um umfassende Derivate- und Futures-Handelsdienstleistungen anzubieten.

Jüngste Übernahmen, Quelle: RootData

 

Mit anderen Worten: Während kleine Projekte noch mit der nächsten Finanzierungsrunde und dem Token-Listing kämpfen, tauschen die Branchengrößen bereits Bargeld gegen Zeit und sichern sich durch Übernahmen ihre Zukunft.

Dieser Trend betrifft nicht nur Coinbase und andere Krypto-Giganten – auch Web2-Größen wie Robinhood, Mastercard, Stripe und Softbank sind dabei. Das bedeutet: Web3 ist längst nicht mehr nur ein Spielplatz für Gründer und Kleinanleger, sondern zieht traditionelles Kapital, Finanzinstitute und sogar börsennotierte Unternehmen an. Übernahmen werden zur Brücke für ihren Einstieg in Web3.

Auch die aktuelle Marktlage bietet ihnen eine wichtige Gelegenheit, ihre Übernahmeaktivitäten zu verstärken. Der Krypto-Primärmarkt bleibt schwach, die meisten Krypto-Projekte kämpfen mit Finanzierungs- und Exit-Problemen und sind auf dem Kapitalmarkt im Nachteil. Wer über ausreichend Bargeld oder Zugang zu Kapitalmärkten verfügt, kann daher Übernahmepreise und -strukturen diktieren. Für Verkäufer ist ein Tausch gegen Anteile, eine Mischung aus Bargeld und Aktien oder eine strategische Partnerschaft oft sicherer als ein riskantes Token-Listing am offenen Markt. So haben die Kapitalstarken in Übernahmeverhandlungen einen natürlichen Vorteil und können Schlüsseltechnologien, Nutzer und Lizenzen günstiger erwerben.

2: Kommt der Goldene Zyklus für Web3-Builder?

Bisher war der Haupt-Exit für viele Web3-Projekte: „Token-Launch – Kursanstieg – Rückkauf/Auszahlung“. Dieser Weg ist stark von der Stimmung am Sekundärmarkt abhängig und wird leicht von Kursschwankungen beeinflusst. Übernahmen bieten den Projekten einen stabileren Weg: Sie können von strategischen Käufern innerhalb oder außerhalb des Ökosystems übernommen werden, erhalten Bargeld oder Anteile und können als Teil einer größeren Plattform weiterentwickelt werden. So gibt es für Team und Technologie einen glatteren Kapitalisierungsweg – ohne alles auf Token-Launch und Listing setzen zu müssen.

Die Übernahmen von Coinbase, Kraken und Co. erweitern die Möglichkeiten für Web3-Projekte und Teams, Wert zu realisieren. In der aktuellen Kapitalflaute ist das auch ein Mutmacher für mehr Investitionen in Krypto-Equity im Primärmarkt und gibt Krypto-Gründern neues Vertrauen.

Der Aufstieg von Krypto-Übernahmen ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Marktreife, Umstrukturierung der Kapitalstruktur sowie regulatorischen und Nutzeranforderungen. Übernahmen ermöglichen eine schnellere Neuzuweisung von Technologie, Nutzern und Compliance-Fähigkeiten im Kryptomarkt. Die führenden Unternehmen festigen und erweitern durch Übernahmen ihren Burggraben, während kleine und mittlere Projekte einen soliden Exit- und Entwicklungspfad erhalten.

Langfristig dürfte diese Übernahmewelle viele Krypto-Projekte motivieren, sich von reinen Tech-Communities oder Marketingfirmen zu echten, kommerziellen Unternehmen mit klaren Nutzeranwendungen und solider Technologie zu entwickeln – mit Fokus auf Produkterlebnis, Compliance und Geschäftsentwicklung. Das wird zweifellos der langfristigen Gesundheit der Branche und ihrer Mainstream-Adoption zugutekommen.

Natürlich sind Übernahmen kein Allheilmittel. Die Großen stehen weiterhin vor vielen Unsicherheiten, etwa bei der Integration: Wie lassen sich die Stärken des übernommenen Unternehmens in Organisation, Produkt, Compliance und Kundenbasis einbinden? Scheitert die Integration, bleibt oft nur eine „leere Hülle“. Zudem besteht die Gefahr von Bewertungsblasen, was sich negativ auf Cashflow und Rentabilität des Übernehmers auswirken kann.

Wie auch immer: Für Krypto-Gründer und das langfristige Krypto-Ökosystem ist das ein großer Vorteil. Der Markt wird Projekten, die solide an Technologie und Anwendungen arbeiten, bessere Überlebenschancen bieten. Fragen wie „Wie sollen wir ohne Token-Launch aussteigen?“ werden Gründer und Builder künftig weniger beschäftigen – ihr goldener Zyklus steht bevor.

Die Krypto-Branche steht 2025 an einem Wendepunkt. Es ist weniger ein reines Kapitalspiel als vielmehr ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Reife der Branche.

In den kommenden Jahren werden wir vielleicht sehen: Börsen sind nicht mehr nur Börsen, sondern werden zu One-Stop-Finanzsupermärkten; Wallets sind nicht mehr nur Wallets, sondern das On-Chain-Finanzportal für Nutzer; Stablecoins sind nicht mehr nur Stablecoins, sondern die Basismünze für grenzüberschreitende Sofortabrechnungen.

Und all das beginnt mit dieser Übernahmewelle.